Den Vollzug verkündete Miguel Arias Cañete fünf Tage vor Weihnachten: „Unterzeichnet, besiegelt, geliefert“ schreibt der EU-Kommissar für Klimaschutz und Energie auf Twitter. Er meint damit das fertig verhandelte Clean Energy Package, ein umfangreiches Bündel an Gesetzen, das auf Deutsch unter dem Namen Saubere Energie für alle Europäer firmiert.

In diesem Energiemarktpaket legt die EU zum Beispiel fest, dass die Subventionen für Kohlestrom bis 2025 europaweit auslaufen müssen; deutlich früher als bislang vorgesehen. Es gibt bindende Ziele für einen weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien und neue Regeln, wie diese in den Energiemarkt besser eingebunden werden wollen. Die Twitternachricht von Cañete ist garniert mit einem kleinen Weihnachtsmann. Kein Wunder, für den Spanier war das Ende des zwei Jahre dauernden Verhandlungsmarathons mit Sicherheit ein schönes Weihnachtsgeschenk.

Für Uwe Zimmermann und Maik Neubauer hingegen bedeuten die neuen Vorgaben des Clean Energy Package vor allem sehr viel Arbeit. Die beiden Männer sind Geschäftsführer der TSCNET Services, einem der fünf Sicherheitskoordinatoren in Europa, deren Aufgabe es ist, potenzielle Gefahren für die Stromversorgung möglichst früh zu erkennen. Gegründet 2008, war TSCNET der erste Anbieter in diesem neuen Geschäft. Sie gelten als Antwort auf die von der EU geforderte, bessere Zusammenarbeit aller europäischen Übertragungsnetzbetreiber nach dem Stromausfall von 2006, der große Teile Europas kurze Zeit lahmlegte.

Mangelnde Kommunikation sorgte für europaweiten Stromausfall

Damals sollte kurz nach 22.00 Uhr das Kreuzfahrtschiff Norwegian Pearl von der Meyer Werft in Papenburg über die Ems ausgeschifft werden. Um die gefahrlose Durchfahrt zu ermöglichen, schaltete der verantwortliche Stromversorger E.on eine durch die Ems führende Stromleitung ab.
Im Grunde ein Routinevorgang. Doch ihre Komplexität macht Stromnetze anfällig für Kaskaden-Effekte, bei denen sich lokale Störungen über Rückkoppelungseffekte zu massiven Problemen aufschaukeln. Als die erste Warnmeldung zu einer möglichen Überlastung der Stromleitung in Landesbergen-Wehrendorf eintraf, versuchte E.on gegenzusteuern. Die Maßnahmen hatten aber nicht den erwünschten Erfolg, der Lastfluss erhöhte sich weiter. Daraufhin schaltete sich die Leitung automatisch ab.

„Strom nimmt immer den Weg des geringsten Widerstands und versucht in solchen Fällen, über benachbarte Leitungen zu fließen“, sagt Dirk Witthaut vom Institut für Energie- und Klimaforschung des Forschungszentrum Jülich. Weitere Leitungen überlasteten und schalteten sich ebenfalls ab – von Nord nach Süd, quer durch Europa.

Stromausfall löste europaweit Chaos aus

In Teilen von Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich und Spanien fällt in der Folge der Strom aus, etwa 15 Millionen Menschen sind betroffen. Aufzüge bleiben stecken, Ampeln fallen aus, Alarmanlagen und Brandmelder werden fälschlicherweise ausgelöst, der Zugverkehr kommt streckenweise zum Erliegen.

Gegen Mitternacht war der Spuk vorbei. Den Übertragungsnetzbetreibern war es gelungen, die Teilnetze wieder zusammenzuschalten und die Stromversorgung wiederherzustellen. Zwei Stunden Stromausfall am Samstagabend sind zuhause auf der Couch zu verkraften. Vielen Menschen, die in Europa mit Energieversorgung zu tun haben, bleibt das Ereignis jedoch als Schockmoment in Erinnerung.

BMW iX im Schwarzwald Manch Elektroauto hat im Winter mit schrumpfender Reichweite und geringer Ladeleistung zu kämpfen. Der BMW iX zeigt sich dagegen gut gewappnet für die kalte Jahreszeit. Elektroauto

Denn es hätte viel schlimmer kommen können. Europa war einem Blackout, also einem Ereignis, bei dem die Stromversorgung großflächig und für lange Zeit zusammenbricht, nur sehr knapp entgangen: Schäden an Transformatoren, Leitungen oder gar Kraftwerken, was die Stromversorgung tagelang hätte behindern können, gab es nicht.

Die offiziellen Untersuchungsberichte kamen damals zu dem Schluss, dass E.on die geplante Abschaltung schlecht kommuniziert hatte. Den anderen beteiligten Übertragungsnetzbetreiber blieb keine Chance mehr, ihre Stromerzeugungs- und Netzkapazitäten an die veränderten Bedingungen anzupassen. Auch während des Stromausfalls wussten Netzbetreiber der an Deutschland angrenzenden Länder teilweise nicht, welche Maßnahmen ihre Nachbarn bereits ergriffen hatten – und konnten deswegen nicht angemessen reagieren.

Bessere Koordinierung dringend nötig

„Ab dem Zeitpunkt war endgültig klar, dass in der Zukunft verschiedene Koordinierungsaufgaben nötig sind, weil man die Komplexität von Stromhandel, Erneuerbaren Energien und technischen Effekten im Netz nicht mehr losgelöst voneinander betrachten kann. Das war die Initialzündung zur regionalen Koordinierung der Übertragungsnetzbetreiber“, sagt Uwe Zimmermann.

Gemeinsam mit seinem Kollegen Maik Neubauer sitzt der Ingenieur in einem schnörkellosen Hochhaus mit Glasfassade, nahe dem Münchner Ostbahnhof. Durch das Büro laufen viele junge Mitarbeiter, das Durchschnittsalter liegt höchstens bei 35 Jahren, gesprochen wird überwiegend Englisch. Auf den ersten Blick ergeben die Schreibtische und vereinzelten Büropflanzen das Bild ganz normaler Arbeitsplätze. Wäre da nicht der extra gesicherte Raum mit den besonders großen Monitoren. Rund um die Uhr werden dort in Echtzeit die Stromflüsse zwischen verschiedenen Ländern angezeigt. Ein Blick auf die Lebensadern Europas, wenn man so will.

Stressfaktoren: Dürresommer, Kältewellen und schwankende Stromerzeugungen

Es gibt zahlreiche Ereignisse, die den Netzbetrieb beeinflussen. Im Hitzesommer 2015 zählte TSCNET die Rekordzahl von 46 Multilateral Remedial Actions, wie sie im Fachjargon heißen, also kritische Netzsituationen bei denen Übertragungsnetzbetreiber aus mehrere Ländern koordiniert eingreifen müssen, um die Frequenz zu halten.

Auch extreme Kältewellen können zu Leitungsausfällen führen, weil Eis und Schnee Hochspannungstrassen lahmlegen. Der Kälteeinbruch im Januar 2017 ließ beispielsweise große Teile Ost- und Mitteleuropas im wahrsten Sinne des Wortes erstarren und mit eisigen Frösten und schweren Schneestürmen. Die europäischen Übertragungsnetzbetreiber mussten intensiv zusammenarbeiten, um die Stromversorgung aufrecht zu erhalten.

Auch der Sommer 2018 war aus Sicht der Netzbetreiber heikel, aber weniger dramatisch als 2015. Durch die Hitzewelle und die begleitende Dürre mussten Kraftwerke ihre Stromproduktion herunterfahren, weil es an Kühlwasser fehlte. Die fehlenden Strommengen müssen anderswo erzeugt und durch andere Leitungen als geplant, geleitet werden.

Eine große Herausforderung für den Netzbetrieb sind Solar- und Windkraftwerke, die Strom zunehmend dezentral erzeugen, der dann über weite Strecken transportiert werden muss. Die Schwankungen, denen die Erzeugung von Strom aus Photovoltaik- und Windparks unterliegen, stellen neue Anforderungen an die Überwachung und das Management der europäischen Übertragungsnetze.

Frühwarnsystem für Gefahren im Netz

Wenn Leitungen oder Kraftwerke ausfallen, müssen die Übertragungsnetzbetreiber sofort eingreifen. Der Betrieb des Stromnetzes in Echtzeit ist ihre originäre Aufgabe. Die Regionalen Sicherheitskoordinatoren sind dazu nicht in der Lage. Ihre Aufgabe ist es, potenzielle Gefahren möglichst früh zu erkennen. Sie fungieren als eine Art Verkehrsleitsystem.

Die zentrale Frage, die sich die Mitarbeiter von TSCNET stellen, lautet: Wo wird viel Verkehr sein und wo ist die Bahn frei? Und wie lässt sich der Verkehr, also der Strom, sinnvoll verteilen? Im Münchner Büro laufen deswegen rund um die Uhr Daten zur Netzsituation von fast allen europäischen Übertragungsnetzbetreiber ein, zum Teil auch zusätzlich aus der darunter liegenden Ebene, dem Verteilnetz.

Dazu kommen Einspeiseprognose von Solar- und Windparks und Informationen zu verschiedenen Effekten in den Netzen, etwa welche Schaltmaßnahmen aufgrund von Baumaßnahmen geplant sind. Und natürlich welche Mengen Strom Unternehmen an der Strombörse handeln. „All diese Informationen verschmelzen wir zu einer Prognose für den folgenden Tag“, sagt TSCNET-Chef Neubauer. Je präziser die Prognose, desto weniger müssen die Betreiber in den Netzbetrieb eingreifen.

Neben TSCNET gibt es mittlerweile vier weitere dieser Organisationen in Europa. Sie unterstützen insgesamt 44 Übertragungsnetzbetreiber in ganz Europa dabei, den Stromfluss aufrecht zu halten. Kerngedanke der regionalen Koordination ist dabei, dass sich die Unternehmen jeweils mit den Besonderheiten ihrer Region gut auskennen, sei es in der Topgraphie oder auch im lokalen Kraftwerkspark.

Big Data: Aus großen Datenmengen verlässliche Prognosen formen

„Am Anfang galt es überhaupt erstmal eine gemeinsame Sprache zu finden“, erzählt Uwe Zimmermann. Damit meint der Ingenieur die Herausforderung, die riesigen Mengen Daten, die bei TSCNET zusammenlaufen und aus ganz verschiedenen Quellen stammen und mit unterschiedlichen Methoden erfasst wurden, stimmig auszuwerten. In den ersten Monaten nach der Gründung des Münchner Büros entwickelten die Mitarbeiter zunächst Analysewerkzeuge, um aus dieser Menge an Informationen tatsächlich eine verlässliche Prognose über die Versorgungslage treffen zu können.

Der Arbeitsablauf der TSCNET-Leute folgt einem wiederkehrenden Rhythmus aus regelmäßigen Lagebesprechungen und endet jeden Tag mit einer abendlichen Konferenz. Um 21 Uhr wählen sich die Kunden von TSCNET – Vertreter der Übertragungsnetzbetreiber aus den beobachteten Gebieten – in eine Videoschaltung ein und besprechen den nächsten Tag. Wo und wann wird das Netz unter Stress sein? Wer ist in diesem Fall unmittelbar betroffen, welcher Netzbetreiber kann diese Engpässe für seine Nachbarn kompensieren?

Die goldene Regel der Stromversorgung ist das n-1-Kriterium. Dieser Grundsatz besagt, dass in einem Netz bei prognostizierter maximaler Übertragungsleistung die Netzsicherheit auch dann gewährleistet bleiben muss, wenn eine Komponente, etwa ein Transformator oder ein Stromkreis, ausfällt oder abgeschaltet wird. Genau das also, was 2006 nicht der Fall war und zu dem verheerenden Dominoeffekt führte.

„Bevor nicht geklärt ist, wie jede Leitung in dem von uns beobachteten Gebiet nach dem n-1-Kriterium gesichert werden kann, läuft der Koordinationsprozess weiter“, berichtet Neubauer. An manchen Abenden ist das schnell geklärt, an anderen wird der Abend für die Mitarbeiter richtig lang. Von den durchgearbeiteten Nächten der TSCNET-Angestellten bekommen die Verbraucher nur selten etwas mit. In den meisten europäischen Ländern fällt im ganzen Jahr der Strom nur wenige Minuten aus. Deutschland steht mit nur 12 Minuten Stromausfall 2017 sogar am besten da.

Inzwischen laufe die Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern routiniert ab, versichern Zimmermann und Neubauer. Trotzdem soll ein vollständig neues Datennetzwerk zwischen allen Netzbetreibern in Europa entstehen, um einen sicheren und harmonisierten Datenaustausch zu gewährleisten. Damit sollen Netzbetreiber mittelfristig auch in der Lage sein, den Zustand des Netzes für bis zu einem Jahr im Voraus prognostizieren zu können.

Schutz vor Hackern und Wetter

Ein solcher Datenaustausch bedeutet auch, dass enorme Sicherheitsvorkehrungen erforderlich sind. Cyberattacken sind eine reelle Bedrohung für den Netzbetrieb. Ende 2016 haben Hacker zum Beispiel das ukrainische Energienetz über Stunden lahmlegt. Dies ist der bislang extremste dokumentierte Vorfall, doch auch Hackerangriffe auf Raffinerien, Verteilungsnetze, Stadtwerke und Atomkraftwerke sind bereits zuhauf dokumentiert. Die Wunschliste nach IT-Spezialisten ist auf den Bewerbungsseiten der Sicherheitskoordinatoren entsprechend lang.

Auch die Energiewende beschäftigt die Experten: Das Clean Energy Package der EU sieht vor, dass Sicherheitskoordinatoren wie TSCNET weitere Verantwortung auf gesamteuropäischer Ebene übernehmen, um das internationale Übertragungsnetz für den weiteren Ausbau Erneuerbarer Energien vorzubereiten.

„Im Prinzip werden mit den neuen Anforderungen aus dem Clean Energy Package alle Prozesse noch einmal auf den Kopf gestellt, da die Sicherheitskoordination nach neuen Methoden, in neuer Infrastruktur und in einer neuen Rollenverteilung zwischen uns als Regional Security Coordinator und den Übertragungsnetzbetreibern durchzuführen ist“, sagt Uwe Zimmermann.

Kurz vor dem Klimagipfel im polnischen Katowice kündigte der für die Energieunion zuständige Vizepräsident der EU-Kommission Maroš Šefčovič an, dass die EU bis 2050 klimaneutral werden wolle. Klimaemissionen senken, gleichzeitig Wohlstand und hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern, sei das Ziel. Ohne die Sicherheitskoordinatoren am Münchner Ostbahnhof kaum vorstellbar.

Dies ist die gekürzte Version einer Reportage, die im Rahmen des European Energy Media Fellowships der Heinrich-Böll-Stiftung entstand und zuerst auf RiffReporter erschienen ist.

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