Plötzlich ist sie doch da, die Reichweitenangst. Wir stehen vor einer einsamen Ladestation in Durness, laut Bordcomputer kommen wir nur noch 59 Kilometer weit – aber die Säule gibt keinen Mucks von sich. Was tun?
Alex, der in der Telefonzentrale von ChargePlace Scotland gerade Notdienst hat, kann auch nicht helfen. Sein Versuch, die Schnellladestation per Funkbefehl wiederzubeleben, scheitert. „Sorry Sir, da muss der Wartungstrupp ran.“ „Wann?“ „Sicher nicht mehr heute.“ Also auf zur nächsten Zapfsäule, die in Scourie steht. Bis dahin sind es zwar nur 43 Kilometer, aber das Terrain ist bergig, die Außentemperatur auf inzwischen unter 20 Grad gefallen – das könnte knapp werden. Laut App ist der Chademo-Stecker, den unser Nissan Leaf benötigt, aktuell frei. Aber was ist, wenn in den nächsten Minuten ein anderer Nissan Strom laden will? Mir läuft es kalt den Rücken runter: Dann wäre unsere Fahrt über die fast schon legendäre North Coast 500 einmal rund um die schottischen Highlands bereits zur Halbzeit beendet. Um es vorwegzunehmen: Die Zitterpartie war nur von kurzer Dauer – und es blieb während der zehntägigen Reise durch den hohen Norden die einzige. Die Ladestation in Scourie erreichen wir im sparsamen E-Modus, mit Tempo 60 und dank intensiver Energie-Rückgewinnung auf den Talpassagen mit einer Rest-Reichweite von zwölf Kilometern („Jetzt laden“, mahnte der Bordcomputer.). Die Station war frei, sie funktionierte – und lieferte den Fahrstrom sogar noch kostenlos. Yaldi!!!

70 Prozent Ökostrom

Schotten gelten als geizig und garstig, die Highlands nördlich von Inverness sind als wüst und windig verschrien. Angeblich regnet es dort Tag und Nacht – zu ertragen sei das alles nur mit einer steten Zufuhr von Single Malt, lauten die gängigen Vorurteile. „Dort oben findest du nur mit viel Glück eine Tankstelle“, warnte mich ein anglophiler Bekannter, der Schottland schon mehrfach mit seinem Oldtimer durchquert hat. Ladestationen für E-Autos aber habe er dort noch nie gesehen. Heute weiß ich: Er war länger nicht mehr in Schottland.
Die Regierung in Edinburgh hat sich ehrgeizige Ziele zum Schutz des Klimas gesetzt: Zwischen 2016 und 2020 sollen die CO2-Emissionen um 56 Prozent sinken. Daher hat sie in den vergangenen zwei Jahren die Windenergie massiv ausgebaut, Wasserkraft und Erdwärme intensiver genutzt sowie Pumpspeicherwerke errichtet – und so den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung auf fast 70 Prozent getrieben. Unter der Regie von ChargePlace Scotland wurde zugleich landesweit massiv in den Aufbau einer Ladeinfrastruktur für Elektroautos investiert. Bis heute sind so bereits über 800 öffentliche Ladestationen entstanden, von denen knapp ein Viertel Strom mit einer Ladeleistung von 50 Kilowatt liefert.

Immer am Rand lang
Die Northcoast500 ist Motorradfahrern schon lange ein Begriff – und lockt nun auch Elektromobilisten mit einer Vielzahl von Ladestationen.

Wanderfreunde und Whiskykenner

Und das nicht nur in den dichter bevölkerten Regionen im Viereck zwischen Edinburgh, Glasgow, Aberdeen und Inverness, sondern auch ganz oben im Norden, in den angeblich so unwirtlichen Landesteilen an der Atlantikküste. Die North Coast 500, die rund 520 Meilen oder 830 Kilometer lange Rundstrecke von Inverness über John O‘Groats, Durness, Ullapool und Applecross zurück in die Hauptstadt der Highlands (siehe Karte) ist dadurch zu einer Traumstraße auch für Elektromobilisten geworden. Naturliebhaber, Whiskykenner und Wanderfreunde kommen hier obendrein voll auf ihre Kosten. Also nichts wie hin.

Schöne Aussichten
Kontinentaleuropäern hilft bei der Fahrt in einem rechtsgelenkten Auto eine Markierung in der Windschutzscheibe bei der Wahl der richtigen Straßenseite.

Der neue Nissan Leaf ist das perfekte Gefährt für eine solche E-Expedition durch den Norden. Nicht nur, weil das Elektromobil auf der britischen Insel produziert wird, sondern weil es mit einem 40 Kilowattstunden großen Akku und einem sparsamen Energieverbrauch einen Aktionsradius bietet, der Anfälle von Reichweitenangst höchst selten werden lässt. Eine Akkuladung genügt im Flachland für rund 270 Kilometer, die auf Berg- und Talpassagen auf etwa 240 Kilometer zusammenschnurren. Das genügt, um auch mal eine Stromtanke auslassen zu können. Nach 30 Minuten am Schnelllader ist der Akku meist wieder voll – es sei denn, der Fahrer hängt den Leaf zweimal am Tag an die Strippe. Dann kann es auch schon mal länger dauern, weil die Bordelektronik zum Schutz des Akkus den Ladestrom drosselt. Dieses Rapidgate-Phänomen erlebten wir auf der Tour ein einziges Mal. Es störte aber nicht, weil wir für den Stopp in Ullapool ohnehin mehr Zeit eingeplant hatten, um uns an Mince Tea und warmen Scones mit Clotted Cream zu laben.

Genuss der Stille

Schottland ist reich an Sehenswürdigkeiten, an Destillerien, na klar, aber auch an Burgen und Schlössern wie dem Castle of Mey: Der ehemalige Sommersitz der vor 16 Jahren verstorbenen Queen Mum in der Nähe von Thurso ist so erhalten, als wäre die königliche Hoheit nur mal kurz weg. Da goutiert es der Hofstaat, wenn sich der Besucher beinahe lautlos der Andachtsstätte nähert und nur den Kies in der Einfahrt zum Knirschen bringt.

Der Genuss der Stille ist aber noch größer bei der Fahrt durch die grandiose Landschaft, etwa durch den Geopark von Knockan Crag. Er begeistert Experten mit Zeugnissen der Kontinentalverschiebung, uns einfach nur durch die Vielfalt von Formen und Farben, das Spiel von Licht und Schatten. Wir fühlen uns ganz klein angesichts der vielen erdgeschichtlichen Zeugnisse: Welche Spuren hinterlassen wir? Was bleibt vom Leaf in leuchtendem Magnetic Red?

Alles andere als geizige Schotten

Aber bloß keine Melancholie – in Cove wartet Jo auf uns. Das Haus der Krankenschwester und Airbnb-Vermieterin liegt, vorsichtig formuliert, etwas abseits und ist auch nur über einen Schotterweg zu erreichen, der unseren Nissan mächtig fordert. Dafür gibt es von der Anhöhe aus einen wunderbaren Ausblick auf das Loch Ewe, wo sich im Zweiten Weltkrieg die Nordmeergeleitzüge nach Murmansk formierten. Und vor allem gibt es in der Garage eine Steckdose, die von Ökostrom gespeist wird – erzeugt mit Fotovoltaik-Panels. Jos Vater hat früher als Soldat in Osnabrück gedient und freut sich, sein Deutsch auffrischen zu können.
Geizige Schotten? „Wenn Sie Strom für Ihr Elektroauto brauchen, kriegen Sie hier überall kostenlos welchen. Sie müssen nur sagen, dass Sie kein Engländer sind“, rät er uns am nächsten Morgen lachend, bevor wir mit prall gefülltem Akku die Weiterfahrt antreten. So ganz vereint scheint das Königreich immer noch nicht. Und der drohende Brexit könnte die Spaltung des Landes vertiefen. Kurz schieben sich da Wolken vor die Sonne, rein bildlich und im Wortsinn. Aber wie sagen die Menschen dort oben: „Wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, warten Sie eine Viertelstunde.“ Dann sieht alles schon wieder anders aus.
Zehn Tage haben wir uns für die North Coast 500 Zeit genommen. Bei der Rückkehr in Inverness steht fest: Beim nächsten Mal fahren wir im Uhrzeigersinn. Wieder elektrisch. Und gerne auch wieder mit einem Nissan Leaf. Zumal es ihn inzwischen auch mit einer größeren Batterie gibt, die 62 Kilowattstunden Strom speichert und unter idealen Bedingungen für 385 Kilometer gut sein soll. Damit könnte man die Northcoast 500 sogar mit nur zwei Ladestopp schaffen.

Green Britain
Ladepause in John o’Groats vor dem Öko-Hotel Natural Retreats.
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