Bosch hat angefangen: Vor zehn Jahren ist der Konzern als einer der ersten Autozulieferer in das Geschäft mit den elektrifizierten Fahrrädern eingestiegen und hat dem E-Bike mit zum Durchbruch verholfen. Dann folgten Brose und Continental, etwas später auch ZF. Und jetzt sind Mahle, Rheinmetall Automotive und Schaeffler ebenfalls dabei. All die Industrie-Größen locken nicht nur die zweistelligen Wachstumsraten im Zweiradmarkt. Immerhin hat die Branche im ersten Halbjahr 2019 rund 920.000 E-Bikes verkauft. Sie kann zudem mit der Integration von Elektromotor, Akku und Steuerungssoftware ins Rad wertvolle Erfahrungen bei der Elektrifizierung von Fahrzeugen sammeln. Die ja jetzt auch dem Auto bevorsteht.

Wer auf der gerade stattfindenden Messe Eurobike in Friedrichshafen am Bodensee die Stände dieser Zulieferer abklappert, merkt aber auch: Sie müssen sich mächtig anstrengen, um ihre Antriebskonzepte voneinander abzugrenzen. Brose etwa setzt auf besonders leise und effiziente E-Motoren. ZF versucht es im Joint-Venture Sachs Micro Mobility mit einem Drehmoment-Riesen, der 110 Newtonmeter Drehmoment liefert – mehr als die Serienmodelle des VW Käfers jemals auf die Straße brachten. Und Mahle hat einen besonders kompakten Motor für die Hinterradnabe im Angebot, ideal für Rennräder und Gravelbikes.

„Konkurrenz belebt das Geschäft“, gibt sich Joerg Schmidt optimistisch, Vertriebschef von Sachs Micro Mobility. Die Endkunden profitieren – hoffentlich – durch niedrigere Preise. Und die Fahrradherstellers haben es angesichts der Antriebsvielfalt noch leichter, einen Hilfsmotor in wirklich jedes Fahrradmodell zu bringen: in Trekking-Räder, Mountainbikes und Lastenräder sowieso. Zunehmend aber auch in Renn- und Kinderräder. Und in Tretroller selbstredend ebenfalls. E-Scooter sind in Friedrichshafen mittlerweile reichlich vertreten.

Neben der Elektrifizierung dominieren noch zwei weitere Trends die Messe: Sicherheit und Vernetzung. Und bei fast jeder Gelegenheit gab es engagiert ausgetragene Debatten, wo all die E-Bikes und E-Scooter in den Städten ihren Platz finden sollen, zwischen Autos und Fußgängern.

Räder mit elektrischer Kette

Klar macht die Eurobike aber auch: Das E-Bike ist noch lange nicht am Ende seiner technischen Entwicklung angelangt, was zwei ungewöhnliche Prototypen von Schaeffler und dem Schwarzwälder Motorhersteller Heinzmann beweisen. Die Partner haben ein Lastenrad und ein Trekking-Rad konzipiert, das ohne Kette oder Riemen zwischen Tretlager vorne und der Nabe im Hinterrad auskommt. Tritt der Radler in die Pedale, treibt er einen Generator an. Der so erzeugte Strom fließt per Kabel in den Elektromotor, der das Rad bewegt. Weitere Energie liefert ein Akku. Natürlich gebe es Umwandlungsverluste, wenn der Mensch nicht direkt mechanisch über Kette und Zahnräder für Vortrieb sorge, räumt Jens Kattner, verantwortlicher Entwickler bei Schaeffler ein. Doch die fielen etwa beim Lastenrad nicht so stark in Gewicht, weil der Motor eh viel Leistung zur Unterstützung liefern müsste.

„Unsere Zielgruppe sind Lieferdienste und Verleiher“, erklärt Kattner. Sie bräuchten möglichst robuste Räder, ohne empfindliche Schaltungen und Mechanik. Zudem ahmt beim „Chainless Drive“ genannten System von Schaeffler und Heinzmann die Elektronik die Gangwechsel nach, indem sie immer für die optimale Unterstützung durch den Motor sorgt. Ob das System in Serie gehen werde, sei noch nicht entschieden, sagt Kattner, das hänge auch vom Interesse des Marktes ab – „das wollen wir hier auf der Messe herausfinden“. Der Schaeffler-Mann will übriges nicht nur die Fahrradkette abschaffen, auch einen Abstandregeltempomaten für Fahrräder hat er bereits konzipiert, wie eine Patentanmeldung zeigt.

Sensible Stoßdämpfer

Nicht nur das Beispiel Schaeffler zeigt, wie wichtig Elektronik auch am Rad geworden ist. Der amerikanische Komponentenhersteller Sram hat etwa eine kabellose Schaltung namens Eagle AXS fürs Mountainbike entwickelt, bei der der Radler die Gänge auf Knopfdruck per Funk wechselt. Das geht komfortabler als wie bisher über Seilzüge und angeblich genauso schnell und zuverlässig wie bei einer elektrischen Steuerung, wie sie Shimano und Rohloff anbietet. Die Höhe der Sattelstücke kann das System von Sram übrigens ebenfalls drahtlos einstellen. Eine Experten-Jury der Eurobike hat diese Innovation mit einem Gold Award ausgezeichnet.

Genauso wie die elektronische Federung vom amerikanischen Anbieter Fox für Vorder- und Hinterrad. Deren drei Sensoren messen 1000mal pro Sekunde die Beschleunigung an verschiedenen Stellen des Rades und passen innerhalb von drei Millisekunden die Dämpfung entsprechend an – von hart bis komfortabel. Ähnlich wie bei der automatisierten Schaltung soll sich der Mountain-Biker so voll auf seine Tour konzentrieren können und nicht um die Technik kümmern müssen.

Airbag für den Kindersitz

Bei aller Euphorie: Der Zweirad-Boom hat auch eine Kehrseite, die Zahl der im Straßenverkehr verletzten und getöteten Radfahrer steigt. Daher gab es auch einige Innovationen zum Thema Sicherheit. Etwa den Fahrrad-Helm Lumos Matrix, der natürlich den Kopf schützt, aber auch LED-Licht, Blinker und Bremslichter elegant integriert hat, was die Sichtbarkeit im Dunkeln verbessert. Die Eurobike-Jury meint dazu, er sei „einer der sichtbarsten und stilvollsten Helme auf dem Markt“. Noch einen Schritt weiter geht ein italienischer Hersteller: In seine Helme ist eine kleine Kamera eingebaut, die den nachfolgenden Autoverkehr beobachtet. Das Bild wird über eine Bluetooth-Verbindung auf das Smartphone übertragen. Kommt ein Auto – oder anderer Radfahrer – zu nahe, gibt die App dem Radler ein Warnsignal.

Den Nachwuchs im Kindersitz will die französische Firma Helite schützen. Sie hat einen Airbag entwickelt, der einen Kindersitz auf dem Rad umschließt (siehe Bild). Ab September vertreibt sie aber erst einmal eine Weste für Radfahrer, die sich beim Sturz aufbläst und dabei Oberkörper und Nacken mit Polstern vor Verletzungen bewahren soll.

Kampf um die Straße

Mit Technik am Zweirad allein wird der Radverkehr aber nicht sicherer werden. Auch die Infrastruktur vor allem in den Städten wird sich ändern müssen, wenn immer mehr Radler und Roller unterwegs sind. Das zeigte auch ein EDISON-Talk am Vorabend der Messe. Vor Managern der Zweirad-Industrie diskutierten Vertreter von Politik, Wissenschaft, Unternehmen und Verbänden unter Leitung von EDISON-Chefredakteur Franz W. Rother über den „Kampfraum“ in den Metropolen, wie es der Friedrichshafener Messechef Klaus Wellmann zu Beginn formulierte.

Carsten Camrath, Leiter Mikromobilität der Volkswagen AG, räumte bereitwillig ein, dass ein großes SUV wie der Touareg von VW nicht das richtige Gefährt für die Innenstädte sei. Und es sein Job sei, die „Menschen aus den Autos zu holen und attraktive einspurige Verkehrsmittel“ anzubieten, die weniger Platz benötigten. Der bleibe aber knapp, betonte Stefanie Bremer, Professorin für Integrierte Verkehrsplanung und Mobilitätsentwicklung an der Universität Kassel und Gründerin des Stadt- und Verkehrsplanungsbüro orange edge. Gehwege, Straßenbäume, Parkplätze und Fahrbahnen beanspruchten eben Raum. Sie riet zu kreativen Lösungen, etwa Straßen zeitlich flexibel zu nutzen, in der Rushhour durch die Autos und später am Tag durch Fahrräder. Parkplätze zugunsten von Radwegen abzuschaffen, sei immer sehr schwierig, weil kaum ein Anwohner auf die Stellplätze genau vor seiner Haustür verzichten wolle.

Genau das forderte aber Burkhardt Stork, Bundesgeschäftsführer des Fahrradclubs ADFC. Er rechnete vor, dass selbst auf dem Land Autofahrer bei der Hälfte aller Fahrten weniger als fünf Kilometer zurücklegten – Distanzen, die auch mit Fahrrad zu bewältigen seien. Winfried Hermann, Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg, zeigte sich daher optimistisch, den Plan der Landesregierung erfüllen zu können, bis 2030 den Autoverkehr in den Innenstädten um 30 Prozent zu verringern und die Nutzung des ÖPNVs zu verdoppeln. Um den Nahverkehr attraktiver und günstiger und zu machen, könnten autonom fahrende Minibusse einen Beitrag leisten, ergänzte ZF-Chef Wolf-Henning Scheider, den sein Unternehmen derzeit entwickele. Einen ersten Feldtest mit dem People Mover soll es im Herbst geben – direkt in Friedrichshafen.

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